20.07.2022
Regressabwehr
Cannabisverordnungen ‒ Was müssen Ärztinnen und Ärzte beachten?

| Die Verordnung von Cannabis unterliegt gemäß § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch V (SGB V) der Genehmigung durch die Krankenkassen. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung einer solchen Genehmigung, die allerdings auch nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden darf. Die Genehmigung ist vor Beginn der Leistung zu erteilen. In der Praxis wirft die Gesetzesformulierung viele Fragen auf. Der Medizinische Dienst sieht die Notwendigkeit der Verordnung von Cannabis oft nicht. Demnach stünden andere Leistungen zur Verfügung, die dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechen. Das sieht der verordnende Arzt naturgemäß anders. In diesem Beitrag geht es um die bisherige Rechtsprechung und die daraus abzuleitenden Praxistipps rund um Cannabisverordnungen. |

Regress wegen Cannabisverordnung ohne Genehmigung

Das Sozialgericht (SG) Stuttgart kommt in zwei Entscheidungen zu dem Ergebnis, dass eine Cannabisverordnung ohne Einholung der Genehmigung der Krankenkassen unzulässig ist. Das Gericht war der Meinung, dass das Gesetz klar zum Ausdruck bringt, dass die Verordnung bis zum Zeitpunkt des tatsächlichen Vorliegens der Genehmigung unzulässig ist.

Dabei kommt ein Abzug für die Kosten der Leistung, die wirtschaftlich waren, nicht in Betracht, weil ja die Verordnung unzulässig war. Der Arzt kann danach also zu Recht wegen der Verordnung von Cannabis in Regress genommen werden und hat die gesamten Kosten der Verordnung zu tragen, wenn er Cannabis verordnet, bevor die Genehmigung der Krankenkasse vorliegt (Urteile des SG Stuttgart vom 02.06.2021 [Az. S 4 KA 3885/20] und vom 05.08.2021 [Az. S 12 KA 469/20]).

Wie lange nach der Verordnung ist ein Regress möglich?

Bei der Festsetzung eines Regresses für ärztlich verordnete Leistungen muss gem. § 106 Abs. 3 SGB V (in der Fassung durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung vom 21.07.2021) differenziert werden. Zu unterscheiden ist, ob das Verfahren von Amts wegen oder auf Antrag ‒ z. B. einer Krankenkasse ‒ durchgeführt wird:

Regress von Amts wegen

Die Kürzung muss innerhalb von zwei Jahren ab dem Ende des Kalenderjahres, in dem die Leistungen (z. B. Cannabispräparate) verordnet worden sind, erfolgen. Wenn dem Arzt jedoch vor Ablauf der zwei Jahre eine Mitteilung über die Einleitung eines Verfahrens zugeht, ist die Verjährung gehemmt, d. h., sie wird unterbrochen.

Beispiel: Verjährung bei Regress von Amts wegen

Die Verordnung erfolgte im Quartal IV/2021. Ein Regress muss bis zum Abschluss des Jahres 2023 festgesetzt worden sein, es sei denn, dem Arzt ist mitgeteilt worden, dass ein Verfahren eingeleitet worden ist.

Regress auf Antrag (z. B. einer Krankenkasse)

Für Wirtschaftlichkeitsprüfungen, die aufgrund eines Antrags erfolgen, ist der Antrag für die Prüfung ärztlich verordneter Leistungen spätestens 18 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Leistungen verordnet worden sind, bei der Prüfungsstelle nach § 106c SGB V einzureichen. Die Festsetzung einer Nachforderung oder einer Kürzung muss innerhalb weiterer 12 Monate nach Ablauf der vorgenannten 18-Monatsfrist erfolgen. Wenn also innerhalb dieser 30-Monats-Frist der Regress noch nicht ausgesprochen worden ist, ist das Verfahren unzulässig.

Beispiel: Verjährung bei Regress auf Antrag

Die Verordnung erfolgte im Quartal IV/2021. Die Krankenkasse muss einen Prüfantrag bis zum 30.06.2022 stellen. Die Prüfungsstelle muss dann den Regress spätestens bis zum 30.06.2023 festsetzen. Sollte dies bis zu diesem Termin nicht geschehen sein, ist die Durchführung des Verfahrens unzulässig.

Muss der Patient für die Genehmigung ein Rezept vorlegen?

Diese Rechtsfrage ist bisher noch nicht abschließend geklärt. Zwar ist dem Bundessozialgericht (BSG) in einem Verfahren die Frage vorgelegt worden, ob die Vorlage der ärztlichen Verordnung Voraussetzung für den Anspruch des Versicherten ist. Allerdings ist es dann bedauerlicherweise aus „verfahrensrechtlichen Gründen“ nicht zur abschließenden Beantwortung dieser Frage gekommen (Beschluss des BSG vom 03.01.2022, Az. B 1 KR 16/21 B).

Für die Vorlage eines Rezepts sprechen sich die Landessozialgerichte (LSGe) in Niedersachsen-Bremen und Baden-Württemberg aus. Das LSG Niedersachsen-Bremen führt dazu aus, dass der Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln als Sachleistung der GKV zur Realisierung einer vertragsärztlichen Verordnung bedürfe (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.12.2020, Az. L 16 KR 524/20 B ER; gleicher Ansicht: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.09.2017, Az. L 11 KR 3414/17 ER-B).

Gegen die Notwendigkeit der Vorlage des Rezepts und damit anderer Auffassung sind die LSGe NRW und Rheinland-Pfalz. Zur Begründung wird ausgeführt, dass es sinnfrei sei, ein BTM-Rezept vorzulegen, das innerhalb von sieben Tagen in der Apotheke eingelöst werden muss, wenn feststeht, dass innerhalb dieser Zeit das Genehmigungsverfahren durch die Krankenkassen nicht abgeschlossen werden kann (LSG NRW vom 25.02.2019, Az. L 11 KR 240/18 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 06.03.2018, Az. L 5 KR 16/18 B ER).

Das SG Karlsruhe vertritt ebenfalls die Auffassung, dass die Krankenkasse die Versorgung mit Cannabis auch dann genehmigen kann, wenn keine ärztliche Verordnung vorliegt. Es müsse nur klar sein, um welches Cannabisprodukt es genau gehe (Urteil vom 15.09.2021, Az. S 5 KR 527/21).

Was sind die Einschätzungen des verordnenden Arztes wert?

Bei der erstmaligen Verordnung von Cannabis hat der Vertragsarzt ein Einschätzungsvorrecht (sogenannte Einschätzungsprärogative). Deshalb ist die inhaltliche Prüfung durch die Krankenkasse und das Gericht darauf beschränkt, ob die Einschätzung des Arztes

  • nachvollziehbar,
  • schlüssig und
  • widerspruchsfrei ist.

Es komme nicht darauf an, ob sich die Einschätzung im Nachhinein als „richtig“ erweist, stellte das SG Karlsruhe im genannten Urteil fest.

Das LSG Baden-Württemberg ergänzt die Anforderungen an den verordnenden Arzt. Unabhängig vom Einschätzungsvorrecht muss der Arzt die zu erwartenden Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden Leistungen, die dem allgemeinen medizinischen Standard entsprechen, darstellen. Ferner muss er die Einschätzung des Krankheitszustands des Patienten dokumentieren. Darüber hinaus muss eine Abwägung erfolgen,

  • ob,
  • inwieweit und
  • warum

eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.10.2021, Az. L 11 KR 494/21).

PRAXISTIPP | Aus den bisherigen Erfahrungen mit Cannabisverordnungen, dem Wortlaut der rechtlichen Vorgaben und der Rechtsprechung lassen sich folgende Tipps für die Verordnungspraxis der Ärztinnen und Ärzte ableiten:

  • Verordnen Sie Cannabis grundsätzlich nicht, ohne dass die Genehmigung der Krankenkasse vorliegt.
  • Bevor nicht abschließend geklärt ist, ob der Patient zur Genehmigung durch die Krankenkasse ein Rezept vorlegen muss, stellen Sie vorsichtshalber ein BTM-Rezept aus und versehen Sie es mit der Überschrift: „Zur Vorlage und Genehmigung durch die Krankenkasse“. Damit dürfte die Einlösung des Rezepts in einer Apotheke ausgeschlossen sein.
  • Um die Genehmigung der Krankenkasse zu erlangen, bedarf es der guten Dokumentation des Krankheitsbilds des Patienten und der bisherigen Therapie. Es muss dargelegt werden, warum dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen nicht zur Verfügung stehen oder nicht zur Anwendung kommen können. Darüber hinaus sollte ausgeführt werden, warum eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome erwartet wird.

 Quelle: iww.de, AAA Abrechnung aktuell Ausgabe 04 / 2022

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